Kommunaler Hilferuf aus der Provinz

Entlastung und Entbürokratisierung dringend gefordert

von Michael Dobler

Lindenfels. Der Hessische Städte- und Gemeindebund (HSGB) und weitere öffentlich-rechtliche hessische Wirtschaftsverbände darunter der Sparkassen- und Giroverband Hessen-Thüringen, der Kommunale Arbeitgeberverband, der Verband Kommunaler Unternehmen e.V. Hessen und weitere haben sich am 19.10.2023 an den neugewählten Hessischen Landtag gewandt und eine tiefgreifende Änderung der politischen und verwaltungsmäßigen Praxis in unserem Land angemahnt. Die Forderung ist, dass sich die nächste Wahlperiode mit Aufgabenkritik, Priorisierung und Bürokratieabbau befassen muss.

„Die vielfachen Krisen der letzten Jahre und die demographische Entwicklung führen zu einem spürbaren Arbeitskräftemangel. Die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche stellt schon ohne KI gewohnte Abläufe in Frage, Klimaschutz und Anpassung an den wahrscheinlich nicht mehr zu vermeidenden Klimawandel, mit Großschadenslagen, sind kaum zu bewältigen“, führt Bürgermeister Michael Helbig in die Problemstellung ein.

Gleichzeitig sei bereits heute zu spüren, dass das Maß an öffentlichen Aufgaben, in der Regel seien das Unterhaltungs- und Kontrollmaßnahmen, in vielen Fällen nicht mehr eingehalten werden könne, also mit der tatsächlichen Leistungsfähigkeit nicht mehr übereinstimme.

„Man muss wissen, dass die Stadt Lindenfels, wie viele anderen Kommunen selten Entscheiderin, sondern nur noch ausführende Instanz ist; Dinge werden in Brüssel, Berlin, Wiesbaden, Darmstadt oder Heppenheim entschieden. In der Wahrnehmung vieler Menschen – und ich führe viele Gespräche in dieser Art – kümmere sich der Staat mehr um Flüchtlinge und das Weltklima, als um Rentner, Geringverdiener, chronisch Kranke oder auch den arbeitenden Mittelstand und die Unternehmen in Deutschland“, erläutert Helbig die Problematik.

In einer immer komplexeren Welt, gebe es keine einfachen Erklärungen oder Lösungen.

Die Kommunen sollen die Infrastruktur des Landes umbauen und verbessern (Wasser, Abwasser, Straßen, Strom, Breitband), die Energie- und Mobilitätswände bewältigen, Wohnungsnot bekämpfen, die Digitalisierung beschleunigen und nebenbei das Klima und auch die Demokratie retten. Die kommunalen Beschäftigten sollen das Informationsfreiheitsgesetz umsetzen und gleichzeitig den Datenschutz beachten, die äußere, innere und die Cyber-Sicherheit wirksam stärken, unzählige Statistiken ausfüllen, deren Sinnhaftigkeit sich auch Experten immer weniger erschließt, Biotopverbund- und Wärme Netzplanung erstellen, Förderanträge über externe Dienstleister vergeben, da weder Bundes- noch Landesbehörden und schon gar nicht die Kommunen in der Lage sind, im Förderdschungel den Durchblick zu wahren.

„Die Herausforderungen der kommenden Jahre sind so gewaltig, dass wir zu all dem vollumfänglich nicht mehr in der Lage sind! Wer dies erkennt und immer weiter Hoffnungen und Erwartungen in der Bevölkerung weckt, die Kommune könne dieses oder jenes noch zusätzlich tun, was sie nicht kann, leistet einer gefährlichen Entwicklung Vorschub, denn der Bürger erlebt seine Verwaltung als nicht funktionsfähig“, mahnt der Lindenfelser Bürgermeister.

Ob in der Verwaltung, Kommunalpolitik, in der Wirtschaft oder im Ehrenamt: Viele rechtliche Vorgaben binden knappe personelle und finanzielle Mittel. Menschen werden in aller Regel aktiv, um im weitesten Sinne Nützliches für andere zu tun. Ehrenamtliche, zum Beispiel, wollen sich in erster Linie aber nicht mit Antragsverfahren, Dokumentations- und Berichtspflichten auseinandersetzen, sondern aktiv etwas tun.

Deshalb solle in den kommenden Jahren das dezentrale und eigenverantwortliche Handeln gestärkt werden, insbesondere bestehende bürokratische Vorgaben möglichst beseitigt oder wenigstens verschlankt werden. Das wäre ein erster Schritt der „großen“ Politik. Das signalisiere Vertrauen in Verantwortungsbewusstsein und Gestaltungskraft einer großen Mehrheit unserer Gesellschaft und in eine leistungsfähige Wirtschaft.

Es muss was getan werden, schaut man genau 100 Jahre zurück: der Untergang Weimars hat viele Parallelen zum Jetzt. Der Bevölkerung müsse wieder das Gefühl gegeben werden, dass auch etwas für sie getan werde. Viele haben den Eindruck, dass dem nicht so ist. Manche sind auch einfach strukturiert und fallen sehr leicht auf rechte Bauernfänger und ihre simplen Problemlösungsparolen herein.

Es seien deshalb auf allen staatlichen Ebenen folgende Überlegungen anstellen, die Liste ist sicherlich nicht vollständig:

  • eine Rückbesinnung auf die Kernaufgaben der Kommunen und des Staates
  • damit verbunden eine Aufgabenkritik, der an den Staat und die Kommunen gestellten Aufgaben
  • eine Diskussion über Standards, beispielsweise im Baurecht, im Naturschutz, in Zulassungen für Kindertagesstätten, diese Liste lässt sich sehr lang fortsetzen
  • eine echte Entbürokratisierung, das bedeutet auch Genehmigungsverfahren für Wohnungsbauinfrastruktur deutlich zu beschleunigen
  • eine Reduktion auf zwei Verwaltungsebenen, eine entscheidet, eine kontrolliert
  • und ganz wichtig: es muss endlich durchgesetzt werden, das Allgemeinwohl vor Einzelwohl zählt
  • eine ernsthafte Diskussion zwischen der staatlichen Legislative und der kommunalen Exekutive und zwar auf Augenhöhe, denn vor Ort spielt die Musik und nicht in irgendwelchen Regierungspräsidien oder Ministerien

„Wir lernen, wenn wir zu schnell in eine Kurve fahren, dass wir die Physik nicht betrügen können, und mit der Mathematik ist es genauso, wenn am Ende des Monats das Konto leer ist, lernt man, dass man einen Euro genau einmal ausgeben oder sparen kann“, verdeutlicht der Bürgermeister. „Wir wissen also, was zu tun ist, deshalb brauchen wir eine Entlastungsallianz für Kommunen und Entbürokratisierung in Gesellschaft und Wirtschaft. Voraussetzung dafür ist der ernsthafte politische Wille, beginnend im Land Hessen und genau jetzt“, unterstreicht Michael Helbig seine Forderung zum Abschluss.

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